Poesie und Prosa



Die geschwungene Linie ist der Ursprung der Poesie.

(Sternstunde Philosophie zum Thema "Stierkampf", 20.1.13)


2013




"Weiss nicht, was wird.
" (C. K.)

"Das Natürliche lässt sich nicht zwingen. Und wenn, dann wird es krank." (P. A.)




Orte und Orte

Eines Tages war ich nicht, eines Tages werde ich nicht mehr sein. Zwischen diesen beiden
Augenblicken der Gleichgültigkeit der Welt bemühe ich mich zu leben. Es ist eine schwankende
Welt, von Wirbeln aufgewühlt, ohne Orientierung.
    Zwischen diesen beiden Abwesenheiten gehen wir dorthin, wohin uns unsere Schritte führen,
wir setzen unsere Füsse in die Welt und ihre Orte.
    Es gibt Orte und Orte. Die schönen, die berühmten oder die sehr hässlichen lassen uns
am Ende gleichgültig. Bestenfalls interessieren sie unseren Bildungsdrang, etwas sehr Durch-
schnittliches. Die wahren Orte, jene, die uns befruchten, jene, die uns im Gedächtnis bleiben,
sind die, die uns sahen, wie wir ausser uns waren, die unsere Masslosigkeit beherbergt haben,
das Eingeständnis unserer Begierden oder das Erschrecken davor, all jene Orte, die uns auffingen,
als wir erschüttert waren.

(Yasmina Reza, Hammerklavier)




jemand

wohin aber gehen wir wenn es
dunkel und wenn es kalt wird?
ingeborg bachmann

nicht gleich
nicht heute jenseits
der biografie
der entwicklung
geschenkt

da ist jemand
nicht jetzt und
nicht morgen aber
hinter der tür oder
am trottoir
der auf dich zukommt
und einen unver
schämten eindruck
hinterlässt

jemand ist da der
nicht schall und rauch
jemand wie du der
dich genau
versteht

da ist jemand der
zu hoffnung dir anlass
gibt wenn es dunkel
und wenn es
kalt wird

(Hans Gysi, pocket songs, Gedichte aus der edition 8)


2012





Frühlingssingen
Träume erfüllen sich...
(2009)


Jasminenstrauch

Friedrich Rückert
Robert Schumann, op. 27 Nr. 4

Grün ist der Jasminenstrauch
abends eingeschlafen.
Als ihn mit des Morgens Hauch
Sonnenlichter trafen,
ist er schneeweiss aufgewacht.
"Wie geschah mir in der Nacht?"
Seht, so geht es Bäumen,
die im Frühling träumen.









HerbstMelancholieLiebeSehnsucht
(September 2008)




September

Zeit des sich wendenden Lebens,
Zeit der letzten heissen Nächte
und der ersten Astern,
spätsommerlich glühende Tage -
Ströme flüssigen Goldes,
ausgegossen über das Spielfeld
der späten Sonne -
die Luft durchsichtig,
gläsern, lichterfüllt -
Stille, süss
wie Liebe und Heimweh.
(Eva Hönick)



"... Diese Hände griffen mit festen, aber sehr gefühligen Fingern in den Ton, den sie formten, sie gingen mit dem Ton um wie die Hände eines Liebenden mit der hingegebenen Geliebten: verliebt, voll zart schwingender Empfindung, begehrlich, aber ohne zwischen Nehmen und Geben zu unterscheiden, lüstern zugleich und fromm, und sicher und meisterlich wie aus uralter tiefer Erfahrung. ..."
(H. Hesse, Narziss und Goldmund)



Der Töpfer

Dein ganzer Körper
hat Becher oder Süsse, einzig für mich.

Hebe ich die Hand,
finde ich überall eine Taube,
die mich gesucht hat, als hätte man dich,
Liebe, eigens aus Lehm gemacht
für meine Töpferhände.

Deine Knie, deine Brüste,
deine Hüften
mangeln mir, wie einer Höhlung
in dürstender Erde,
aus der man einst
eine Form gelöst,
und zusammen
sind wir vollkommen wie ein einziger Fluss,
wie ein einziger Strand.
(Pablo Neruda, Übers. F. Vogelsang)

El alfarero

Todo tu cuerpo tiene
copa o dulzura destinada a mí.

Cuando subo la mano
encuentro en cada sitio una paloma
que me buscaba, como
si te hubieran, amor, hecho de arcilla
para mis propias manos de alfarero.

Tus rodillas, tus senos,
tu cintura
faltan en mí como en el hueco
de una tierra sedienta
de la que desprendieron
una forma,
y juntos
somos completos como un solo río,
como una sola arena.
(Pablo Neruda)


8. September

Der heutige Tag war ein voller Becher,
der heutige Tag war die gewaltige Welle,
heute, das war die ganze Erde.

Heute hob das stürmische Meer
in einem Kuss uns so hoch,
dass wir erzitterten
im Licht eines Blitzes
und aneinandergefesselt abwärts schossen,
um unterzugehn, ohne uns loszulassen.

Heute dehnten sich unsere Körper aus,
wuchsen bis an die Grenzen der Welt
und rollten, verschmelzend, fort
in einem einzigen Tropfen
Wachs oder Meteor.

Zwischen Du und Ich ging eine neue Türe auf
und jemand, noch ohne Gesicht,
erwartete uns dort.
(Pablo Neruda, Übers. F. Vogelsang / A. Camenzind)

8 de septiembre

Hoy, este día fue una copa plena,
hoy, este día fue la inmensa ola,
hoy, fue toda la tierra.

Hoy el mar tempestuoso
nos levantó en un beso
tan alto que temblamos
a la luz de un relámpago
y, atados, descendimos
a sumergirnos sin desenlazarnos.

Hoy nuestros cuerpos se hicieron extensos,
crecieron hasta el límite del mundo
y rodaron fundiéndose
en una sola gota
de cera o meteoro.

Entre tú y yo se abrió una nueva puerta
y alguien, sin rostro aún,
allí nos esperaba.
(Pablo Neruda)



Il m'a dit: "Cette nuit, j'ai rêvé. J'avais ta chevelure autour de mon cou. J'avais tes cheveux comme un collier noir autour de ma nuque et sur ma poitrine. je les caressais, et c'étaient les miens; et nous étions liés pour toujours ainsi, par la même chevelure la bouche sur la bouche, ainsi que deux lauriers n'ont souvent qu'une racine. Et peu à peu, il m'a semblé, tant nos membres étaient confondus, que je devenais toi-même ou que tu entrais en moi comme mon songe." Quand il eut achevé, il mit doucement ses mains sur mes épaules, et il me regarda d'un regard si tendre, que je baissai les yeux avec un frisson.
(La Chevelure, aus: Claude Debussy, Chansons de Bilitis op. 66 (Pierre Louÿs, 1870-1925))

Er sagte mir: "Diese Nacht habe ich geträumt. Ich hatte dein Haar um meinen Hals. Ich trug deine Haare wie ein schwarzes Collier um meinen Nacken und auf meiner Brust. Ich liebkoste sie, und da waren sie die meinen; und wir waren auf diese Weise für immer verbunden, durch dasselbe Haar, Mund auf Mund, so wie zwei Lorbeersträuche oft nur eine Wurzel haben. Und nach und nach, so schien es mir, waren unsere Glieder so sehr miteinander vermengt, dass ich zu dir wurde oder dass du in mich hineinkamst wie mein Traum." Als er geendet hatte, legte er seine Hände sanft auf meine Schultern, und er betrachtete mich auf so zärtliche Weise, dass ich den Blick erschauernd senkte.
(La Chevelure, aus: Claude Debussy, Chansons de Bilitis op. 66 (Pierre Louÿs, 1870-1925); Übers. A. Camenzind)







Sommer 2008


Texte zu Werden und Vergehen, Leben und Tod, Begrüssung und Abschied
kurz: zu den Rhythmen und Phasen des Lebens
zu Blüte, Reifung, Reife und... Welken und Abfallen
zu Sehnsucht, Erstreben, Erlangen und Integrieren, also Erfüllung
zur Entwicklung des Denkens, zu Erkenntnissen und Umkehr
zum Wechsel
zu Flexibilität, sich Biegen im Wind des Lebens
zum Ja


Stufen
Hermann Hesse

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!



"Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann."
(Francis Picabia, 1879-1953, französischer Maler und Dadaist)



Prediger Salomo 3, 1-13

Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:

geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
(...) heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;

herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.

Man mühe sich ab, wie man will,
so hat man keinen Gewinn davon.
Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat,
dass sie sich damit plagen.
Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit,
auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt;
nur dass der Mensch nicht ergründen kann
das Werk, das Gott tut,
weder Anfang noch Ende.

Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt
als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.

Denn ein Mensch, der da isst und trinkt
und hat guten Mut bei all seinem Mühen,
das ist eine Gabe Gottes.

(nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984; Auslassungen A. Camenzind)



Sunrise, Sunset (aus: Fiddler on the Roof / Anatevka)

(Tevye)
Is this the little girl I carried?
Is this the little boy at play?

(Golde)
I don't remember growing older
When did they?

(Tevye)
When did she get to be a beauty?
When did he get to be so tall?

(Golde)
Wasn't it yesterday
When they were small?

(Men)
Sunrise, sunset
Sunrise, sunset
Swiftly flow the days
Seedlings turn overnight to sunflowers
Blossoming even as we gaze

(Women)
Sunrise, sunset
Sunrise, sunset
Swiftly fly the years
One season following another
Laden with happiness and tears

(Tevye)
What words of wisdom can I give them?
How can I help to ease their way?

(Tevye)
Now they must learn from one another
Day by day

(Perchik)
They look so natural together

(Hodel)
Just like two newlyweds should be

(Perchik & Hodel)
Is there a canopy in store for me?

(All)
Sunrise, sunset
Sunrise, sunset
Swiftly flow the days
Seedlings turn overnight to sunflowers
Blossoming even as we gaze

Sunrise, sunset
Sunrise, sunset
Swiftly fly the years
One season following another
Laden with happiness and tears







Gedanken zum Herbst (Okt. 2007)


"Il faut savoir mourir..." (Carmen) -
Annehmen von Wandel und Kreislauf des Lebens, Abschied, Tod



Herbsttag (Rainer Maria Rilke)

Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süsse in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.



Stilles Reifen (Christian Morgenstern)

Alles fügt sich und erfüllt sich,
musst es nur erwarten können
und dem Werden deines Glücks
Jahr und Felder reichlich gönnen.

Bis du eines Tages jenen
reifen Duft der Körner spürest
und dich aufmachst und die Ernte
in die tiefen Speicher führest.



"Alles kam wieder und wieder, was er nun schon so wohl zu kennen glaubte, alles kam wieder und war doch jedes Mal anders... - alles kam wieder, einmal, zweimal, endlos lief das bunte Band vor seinen Augen hin."
(aus: Hermann Hesse: Narziss und Goldmund)



Stufen (Hermann Hesse)

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!



En vain pour éviter (aus: Georges Bizet, Carmen)

"En vain pour éviter les réponses amères, en vain tu mêleras,
cela ne sert à rien, les cartes sont sincères et ne mentiront pas!
Dans le livre d'en haut si ta page est heureuse, mêle et coupe sans peur,
la carte sous tes doigts se tournera joyeuse, t'annonçant le bonheur!

Mais si tu dois mourir, si le mot redoutable est écrit par le sort,
recommence vingt fois, la carte impitoyable répètera: la mort!
Oui, si tu dois mourir, recommence vingt fois,
la carte impitoyable répètera: la mort! Encore! Encore! Toujours la mort!

Mais qu'importe après tout, si par cette menace mon coeur n'est pas troublé,
cette mort qui m'attend, je la regarde en face... Carmen n'a pas tremblé...
Pourquoi te révolter? aucune force humaine ne peut rien à cela!
Je suis prête, j'attends que le destin me mène où bon lui semblera!

Il faut savoir mourir si le mot redoutable est écrit par le sort,
j'ai beau recommencer, la carte impitoyable répète encore: la mort!
Encore! Encore! Toujors la mort! la mort!


Vergeblich, zu vermeiden die bitteren Antworten, vergeblich mischen wirst du,
es nützt dir nichts, die Karten sind ehrlich und werden nicht lügen!
Ist deine Seite des Himmelsbuches glücklich, mische und ziehe ohne Angst,
Die Karte noch unter deiner Hand wird sich in eine freudige wandeln, dir Glück weissagend!

Doch sollst du sterben, steht das gefürchtete Wort vom Schicksal geschrieben,
beginne zwanzig Mal, die erbarmungslose Karte wird wiederholen: Tod!
Ja, musst du sterben, beginne zwanzig Mal,
die unbarmherzige Karte wird wiederholen: Tod! Wieder! Nochmals! Immer wieder Tod!

Doch was soll es schliesslich, wenn durch diese Drohung mein Herz nicht betrübt ist?
Diesem Tod, der mich erwartet, dem schaue ich in die Augen... Carmen hat nicht gezittert...
Wozu sich widersetzen? Jegliche menschliche Kraft kann nichts dagegen ausrichten!
Ich bin bereit, ich warte darauf, dass das Schicksal mich dorthin führt, wohin es ihm gut erscheint.

Man muss zu sterben wissen, wenn das gefürchtete Wort vom Schicksal geschrieben steht,
vergeblich beginne ich von neuem, die erbarmungslose Karte wiederholt nochmals: Tod!
Wieder! Von neuem! Immer wieder Tod! Tod!
(Übers.  A. Camenzind)